Impressionen aus Nicaragua: Im Land von Zuckerbrot und Peitsche

ein Gastbeitrag von Matthias Schindler

Nicaragua verändert sich. Einige Veränderungen fallen sofort ins Auge. Andere vollziehen sich hinter den Kulissen, weit ab von der Beachtung durch die Öffentlichkeit. Wer heute nach Nicaragua kommt, der sieht zunächst ein ruhiges Land, sympathische Menschen, beachtliche Bautätigkeit, wachsenden Wohlstand, öffentliche Sicherheit. Aber dann gibt es im Süden des Landes auch noch das Projekt des interozeanischen Kanals, es gibt auf dem Lande Massendemonstrationen dagegen, polizeiliche Repression. Es kam zum ersten offenen politischen Prozess gegen einen Angehörigen des Militärs. Im Norden kommen Campesinos durch Militäreinsätze zu Tode, aber die Regierung hüllt sich dazu in Schweigen. Der Fernsehkanal 2, der vorletzte, der noch nicht von der Präsidentenfamilie Ortega-Murillo kontrolliert war, wurde verkauft. Eine Mischung von FSLN-Parteigängern, zwangsverpflichteten Demonstranten und Polizei in Kampfmontur geht am internationalen Frauentag gegen eine unabhängige Frauendemonstration vor. In diesem Artikel soll ein Stimmungsbild des heutigen Nicaragua gezeichnet werden, das auf dem Erlebten und Gehörten während eines vierwöchigen Aufenthaltes imMärz 2015 basiert.

In den Straßen von Managua

Zur Rush-Hour gibt es im Straßenverkehr Managuas kein Vorankommen mehr. Zwar sieht man immer noch die klapprigen Taxis, um die man vorm Einsteigen am liebsten erst einmal ein paar Lagen Tesa-Pack kleben würde, damit sie bei der Weiterfahrt nicht auseinander fallen. Aber geprägt wird das Straßenbild inzwischen von den völlig überdimensionierten SUV-Limousinen. Die sind zwar in aller Regel auf Pump gekauft, aber immerhin gibt es immer mehr Menschen, denen die Banken und die Autohändler eine pünktliche Ratenzahlung zutrauen.
Taxifahrer verschaffen dem Fahrgast in allen Ländern einen gewissen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse vor Ort. In Managua haben alle Taxifahrer traditionell unterhalb des inneren Rückspiegels zwei kleine miteinander gekreuzte Fähnchen an der Windschutzscheibe angebracht. Vor fünf, ja sogar noch vor drei Jahren gab es zwei Gruppen: Die eine hatten eine rot-schwarze Fahne der FSLN, kombiniert mit der blau-weißen Fahne Nicaraguas; die andere hatte zwei gleiche Fahnen in den Landesfarben. Die erste Gruppe ist inzwischen aber völlig aus dem Straßenbild verschwunden, und so fahren inzwischen alle Taxis nur noch mit der Nationalflagge durch die Gegend.
Eine andere Auffälligkeit: Selbst bei wenig Verkehr bleiben Autos und Motorräder jetzt an der Ampel stehen, wenn sie auf rot steht. Motorradfahrer – und selbst die Beifahrer! – tragen jetzt Helme, außer vielleicht die zweijährige Tochter, die vorne auf dem Tank sitzend mitgenommen wird. Die Leute schnallen sich im Auto an. Immer mehr Verkehrsteilnehmer verzichten auf den Genuss von Alkohol, bevor sie sich ans Steuer setzen. Es wurde sogar schon beobachtet, dass Autofahrer an einem Zebrastreifen anhalten, wenn Fußgänger die Straße überqueren wollen. Die Frage drängt sich auf: Wie konnten diese geradezu revolutionären Veränderungen Einzug in die Alltagspraxis auf der Straße halten? Die Antwort ist ziemlich einfach: Verstöße gegen diese Regeln wurden nicht nur mit hohen Strafen – z.B. 2.000 Pesos
(ungefähr 75 US-Dollar) für das Überfahren einer roten Ampel – belegt, sondern dies wird auch von einem überall präsenten Polizeiaufgebot in Managua streng kontrolliert.
Wenn man aber einmal angehalten wird, so kann man den Preis durch ein bisschen Zetern und Klagen meistens deutlich herunter handeln. Dann allerdings wandert das Geld nicht in die Staatskasse, sondern in die Taschen der Ordnungshüter, um ihr bescheidenes Salär aufzubessern. Dieser Mechanismus funktioniert aber auch dann, wenn man sich als Kraftfahrer überhaupt nichts zu Schulden kommen lassen hat. Denn es gilt das Prinzip irgendetwas finden sie immer: einen nicht funktionierenden Blinker, ein fehlendes Fahrzeugpapier, eine fehlende TÜV-Bescheinigung, eine fehlende Quittung für die Bezahlung einer TÜV-Bescheinigung … oder sonst irgendetwas, was in irgendeiner Verordnung drin steht oder auch nicht.
Aber nicht Alle beschweren sich über diese Maßnahmen. Auf der Straße herrschte in Nicaragua bisher vielfach ein (selbst-)mörderisches Chaos. Wie auf der ganzen Welt, jedoch in einer besonders aggressiven Variante, drückte sich das Machotum hier in völlig wahnsinnigen – und dabei auch noch komplett sinnlosen – Verkehrsmanövern aus, die Hunderten von Menschen ihr Leben kosteten. Die Interlokales, Kleinbusse für den Personentransport zwischen den Städten, werden im Volksmund daher auch nur noch Intermortales (Todesbusse) genannt.
Und über Ostern sind alljährlich Dutzende von Toten zu beklagen, weil in dieser heißesten Periode des Jahres Alkoholmissbrauch, die Suche nach schneller Abkühlung im Wasser und männliche Selbstüberschätzung am Strand und auf der Straße sich immer wieder zu einem fatalen Mix kombinieren. Daher wird manch bürokratisch-autoritäre Regierungsmaßnahme zum Nutzen der Menschen von vielen Leuten durchaus positiv aufgenommen. Nicaragua wird auch sauberer. Alle Straßen auf dem Lande und in der Stadt waren stets und ständig mit Abfall, vor allem aber von unendlich vielen gebrauchten Plastiktüten, übersäht.
Heutzutage sieht man die Menschen Morgen für Morgen den Gehweg vor dem eigenen Haus fegen und sogar den Rinnstein säubern. Dies wird zwar strikt nur bis zur Höhe der eigenen Grundstücksgrenze gemacht, aber mehr schreibt die entsprechende Verordnung auch nicht vor. Vor einem nicht bewohnten Grundstück sammelt sich dann umso mehr Dreck. Aber dort räumen dann Angestellte der Stadt auf, die ab und zu vorbei kommen. Man könnte manchmal den Eindruck bekommen, dass es vielen Menschen besser erscheint, von einer strengen, autoritären Hand geführt zu werden, als sich selbst mit eigenen Vorstellungen in das gesellschaftliche Leben einzubringen.

Der Kanal: Hoffnung und Repression

Ohne dass es irgendeine Machbarkeitsstudie gäbe – keine wirtschaftliche, keine ökologische, keine geologische, keine wasserwirtschaftliche … und keine sonstige – haben Parlament und Regierung im Schnellverfahren beschlossen, in Nicaragua einen Wasserkanal zu bauen, der die Karibik mit dem Pazifik verbinden soll. Er wird dreimal so lang sein wie der Panama-Kanal. Er soll mindestens 50 Milliarden Dollar kosten. Bei dessen Bau soll die größte Erdmasse verlagert werden, die jemals von Menschenhand bewegt wurde. Die Konzession wurde ohne öffentliche Ausschreibung an eine chinesische Firma vergeben, von der niemand weiß, wem sie gehört, wer ihre Geldgeber sind und über welches Kapital sie verfügt. Seitens der Regierung herrscht ein strikter Sekretismus, es gibt praktisch keinerlei öffentliche Informationen über dieses gigantische Projekt, das das ganze Land tiefgreifend verändern wird, sollte es tatsächlich in die Tat umgesetzt werden.
In über 30 Dörfern und Orten, deren Existenz durch den Kanal auf dem Spiel steht, gab es Demonstrationen gegen den Kanal, die teilweise brutal von der Polizei unterdrückt wurden. Kurz nach Weihnachten wurde der Militärarzt Yader Montiel verhaftet, weil er sich im privaten Familienkreis kritisch zu diesen Repressionsmaßnahmen geäußert haben soll, unter deren Opfern sich auch Angehörige seiner Familie befanden. Er wurde unter der Anschuldigung angeklagt, die Ehre des Militärs beschmutzt zu haben, und am 10. März von einem Militärgericht für schuldig befunden. Dieser Vorgang führte jedoch zu einem politischen Aufschrei im Lande, zumal dieser Prozess jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehrte. Der Angeklagte widerstand massivem Druck, sich schuldig zu bekennen. Seine Familienangehörigen schalteten die Menschenrechtskommission CENIDH ein. Es handelte sich um den ersten offenen politischen Prozess, der die freie Meinungsäußerung bestraft.
PEN Nicaragua, 20. Februar 2015 in Managua: Gioconda Belli (Mitte), Ernesto Cardenal (rechts daneben) und andere setzen sich unter dem Motto Befreie das Wort! kritisch mit dem Kanal-Projekt aus- einander (Foto: M.S.)

Dass dem Militär und der Regierung bei dieser Sache am Ende gar nicht mehr wohl war, zeigt sich an dem Urteil von dreieinhalb Monaten Arrest. Dieses Strafmaß liegt nur zwei Wochen über der Mindeststrafe und ist durch die Untersuchungshaft schon größtenteils abgesessen. Aber es ist an die Bedingung geknüpft, dass sich der Verurteilte schriftlich bei der Armee-Führung für sein Verhalten entschuldigt. Dieser Vorgang ist ein Warnschuss für alle Angehörigen des Militärs und der Polizei, sich noch nicht einmal privat regierungskritisch zu äußern. Es gibt aber auch viele Menschen, die mit großen Erwartungen auf den Kanal schauen. Sie hoffen auf eine nachhaltige Verbesserung ihrer Lebenssituation, auf Arbeit, auf Wohlstand.
Angesichts der korrupten Strukturen Nicaraguas und des ungeheuren Finanzvolumen des Projektes, ist es für Viele sicherlich nicht unrealistisch, darauf zu hoffen, dass auch bei ihnen etwas von dem einst ins Land strömenden Geld hängen bleiben würde. Dabei ist jetzt schon klar, dass angesichts des Umfanges dieses Projektes die meisten Fachkräfte aus dem Ausland kommen müssen. Die ersten Chinesen sind schon an der Arbeit, bei der Vermessung des Landes.
Die Partei des Präsidenten Ortega – die FSLN – nennt sich sandinistisch, nach dem historischen nicaraguanischen Freiheitskämpfer Augusto César Sandino. Dieser hatte sich vor über achtzig Jahren schon sehr deutlich zum Bau eines interozeanischen Kanals durch Nicaragua geäußert: Ein solch bedeutendes Projekt würde die Kapazitäten Nicaraguas in jeder Hinsicht um ein Vielfaches übersteigen und könne daher nur als ein gemeinsames Projekt ganz Latein-amerikas verwirklicht werden. Nur unter gemeinsamer Leitung der Gemeinschaft der latein-amerikanischen Staaten und mit lateinamerikanischem Kapital könne sichergestellt werden, dass ein solcher Kanal unter einheimischer Souveränität verbliebe und nicht unter die Kontrolle einer ausländischen Großmacht fiele. Dass er damals hauptsächlich an die USA dachte, ändert nichts an der Richtigkeit und der Bedeutung dieser Position, auch wenn es aktuell um China geht. Die heutige Politik Ortegas ist genau das Gegenteil von dem, was Sandino einst gefordert hat.

Ein internationaler Frauentag besonderer Art

Die Verteidigung der Frauenrechte führte in früheren Jahren immer wieder zu Berührungspunkten zwischen der breit gefächerten Autonomen Frauenbewegung und den Frauen, die der FSLN nahe stehen. So reichte die Ablehnung der Illegalisierung der Abtreibung weit in das Regierungslager hinein, und auch Anhängerinnen Ortegas demonstrierten gegen diese Maßnahme. Auch der Kampf gegen die vor allem häusliche Gewalt gegen Frauen vereinte Unterstützerinnen und Kritikerinnen der Regierung. Es wurden polizeiliche Frauenkommissariate geschaffen und das Gesetz Nr. 779 verabschiedet, das Gewalt gegen Frauen unter Strafe stellt. 2013 wurde dieses Gesetz jedoch so abgeändert, dass sich die Frauen zuerst einem Versöhnungsprozess mit dem gewalttätigen Mann unterziehen müssen, bevor die Strafverfolgung einsetzt. Und aus den Frauenkommissariaten wurden jetzt Familienkommissariate, die die Opfer von Gewalt erst einmal zu den Gabinetes de Familia (Familienräten) schicken, um eine Aussöhnung zu vermitteln. Die Autonome Frauenbewegung hat daher auch in Nicaragua allen Grund, am 8. März für ihre Forderungen auf die Straße zu gehen. Das darf aber nach dem Willen von Ortega-Murillo nicht sein, weil unter ihrer christlichen, sozialistischen und solidarischen Regierung alle glücklich und zufrieden sein müssen. Dies gilt umso mehr, als Daniel Ortega – nach seinen eigenen Worten – die Hälfte der Macht an die Frauen abgegeben hat, indem er – nicht mehr in seinen eigenen Worten – seiner Ehefrau Rosario Murillo ohne irgendeine verfassungsmäßige Grundlage einen weitgehenden Einfluss auf die Regierungsgeschäfte übertrug. Konsequenterweise wurden die großen Rotondas (Kreisverkehrsinseln) in der Hauptstadt schon zwei Tage vor dem Frauentag beginnend von Demonstranten mit den Fahnen Nicaraguas und der FSLN besetzt. Es wurden gewaltige Musikanlagen aufgebaut, die die gesamte Nachbarschaft von morgens bis abends mit lateinamerikanischer Tanzmusik und mit Liedern der Sandinistischen Revolution beschallten. Am 8. März selbst schwollen diese Kundgebungen schon am frühen Morgen so weit an, dass der Verkehr in Managua weitgehend zum Erliegen kam, obwohl es sich um einen Sonntag handelte. Aber dafür muss die Regierungspartei keine großen Mobilisierungsanstrengungen mehr unternehmen. Es werden einfach die Mitarbeiter einiger Ministerien zu solchen pro-Regierungs-Demonstrationen dienstverpflichtet, und schon hat man die gewünschte rot-schwarze Kulisse. Wer nicht erscheint, riskiert seinen Ar-
beitsplatz.
8. März 2015 in Manauga (Quelle: Confidencial, 08.03.2015)
Mit einem solchen Schauspiel kann man aber die unabhängigen Frauen nicht aufhalten. Diese strömten mit vielen lila-farbenen Transparenten, mit bedruckten T-Shirts, mit phantasievollen Kostümen, bunt geschminkt, mit Straßen-Sketchen, selbstbewusst und voller Witz zu Tausenden zum vereinbarten Treffpunkt am Hugo-Chávez-Kreisel. Um diesen Ausdruck von Freiheit und Engagement zu stoppen, wurden den Frauen Polizeieinheiten in voller Kampfmontur, mit Helmen, Schildern und Knüppeln entgegen geschickt. Geradezu grotesk waren die Bilder, die dabei entstanden: Angesichts der tropischen Hitze und des friedlichen Demonstrationskonzeptes hatte sich eine große, lustige, lila-bunte Versammlung von Frauen zusammen gefunden, der sich mehrere Reihen von Polizisten in Aufstandsbekämpfungs-Montur entgegen stellten. Als besonderen Gag hatte sich die ehemalige Nonne und jetzige Polizeichefin Granera noch ausgedacht, zu Ehren des Frauentages diesmal (in den ersten drei Reihen) nur weibliche Polizisten in die Kampfanzüge zu stecken und gegen die autonomen Frauen marschieren zu lassen.
Dem unbedarften Beobachter stellt sich angesichts dieses völlig überzogenen Einsatzes staatlicher Gewalt die Frage, wieso ein Regime, das anscheinend recht fest im Sattel sitzt, auf eine absolut friedliche Frauen-Demonstration mit einer derart massiven Drohgebärde reagiert. Dies ist ohne den im Hintergrund stehenden unauflösbaren Grundkonflikt zwischen Regierung und Frauenbewegung nicht zu erklären: Daniel Ortega hat Zoilamérica Narváez, die Tochter seiner Ehefrau Rosario Murillo, seit frühester Jugend und über viele Jahre hinweg missbraucht und vergewaltigt. Dennoch konnte er sich bisher jeglicher Strafverfolgung entziehen. Darüber hinaus wurde ihr 2013 jede Arbeitsmöglichkeit in Nicaragua genommen, und ihr Lebensgefährte aus dem Lande verbannt. So wurde die Stieftochter des Präsidenten und leibliche Tochter der First Lady zur Emigration gezwungen, um sie als lebendes Schandmal des Präsidenten von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Die unabhängige Frauenbewegung Nicaraguas ist eine fundamentale und permanente Bedrohung für die Legitimität Ortegas, weil sie alleine schon durch ihre bloße Existenz immer wieder daran erinnert, dass seine Macht darauf beruht, dass er die Frauenrechte aufs Schlimmste missachtet und die elementarsten Grundsätze eines Rechtsstaates mit Füßen tritt.

Schule und Gesundheitswesen

Bildung und Gesundheit waren einst die Aushängeschilder der Sandinistischen Revolution in den 1980er Jahren. Auch seine erneute Präsidentschaft begann Ortega 2007 mit der Abschaffung der Schulgebühren, um allen Kindern eine freie Grundbildung zu ermöglichen. Leider hört man heute in vielen Gesprächen, dass die Qualität der öffentlichen Bildung immer mehr zu wünschen übrig lässt. Es passt ins Bild, dass viele Lehrer in der Lehrergewerkschaft ANDEN inzwischen eher ein Anhängsel der Regierung sehen, als eine Interessenvertretung, die sich für Verbesserungen ihrer immer noch sehr bescheidenen Gehälter einsetzt. Auch weiß
natürlich jeder Schüler, dass man inzwischen gesellschaftlich wesentlich besser voran kommt, wenn man sich die richtigen Freunde sucht, anstatt für gute Schulnoten zu lernen. Für die Betuchteren blühen die Privatschulen auf, wo man jeden Abschluss kaufen kann. Die Präsidenten-Familie muss es wissen: Die Enkel von Ortega-Murillo tummeln sich in der Deutschen Schule oder im Colegio Americano herum, vor denen jeden Morgen Hunderte von dicken SUV-Limousinen, in denen die kleinen Prinzen herum chauffiert werden, die Straßen versperren.
Besser gestellte Eltern, die ihren Nachwuchs nicht geradewegs auf das bequeme Jet-Set-Leben zwischen Miami und San Juan del Sur vorbereiten wollen, schicken ihre Kinder auf das Colegio Centro America. Diese Schule wird von Jesuiten geleitet, die sich immer noch stark von der Orientierung auf die Armen leiten lassen. In ihr kommt die gesamte soziale Realität des Landes zusammen, denn es gibt viele Schülerinnen und Schüler aus armen Bevölkerungsschichten, deren Unterbringung und Ausbildung vom Orden der Jesuiten getragen wird.
Bayardo Arce, einer der neun Comandantes, die in den 1980er Jahren die Macht ausübten, wird heute offiziell als Wirtschaftsberater der Regierung bezeichnet. Aber dies ist nur eine schön klingende Umschreibung der Tatsache, dass er den größten Batzen der Unternehmen besitzt, die nach dem Ende der Revolution unter den verlässlichen Kadern der FSLN aufgeteilt wurden. Dieser Vorgang ist im Volksbewusstsein bis heute als die große Piñata bekannt – eigentlich ein Spiel, bei dem Kinder zur Musik tanzend um Bonbons und andere Süßigkeiten streiten. Als großem Unternehmer ist es ihm natürlich nicht zuzumuten, sich in einem der
öffentlichen Krankenhäuser, die sich in einem katastrophalen Zustand befinden, behandeln zu lassen. Ja selbst die privaten Kliniken Nicaraguas sind für diesen ehemaligen Revolutionär nicht mehr gut genug. Er zog es vor, sich im Kernland des Imperialismus einem chirurgischenEingriff zu unterziehen.

Regierung und Opposition

Was ist das für eine Gesellschaft, in der offensichtlich eine wohlhabende Mittelschicht entstanden ist, die Armut aber immer noch in weiten Bereichen das Bild prägt? In der es nach wie vor eine hohe Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung gibt, während die auffällig übergewichtigen Kinder der Neureichen durch die angesagten Bars und Clubs der Hauptstadt ziehen? In der viele Menschen eine gewisse Zufriedenheit ausstrahlen, die jedoch eher von Apathie als von guten Lebensumständen geprägt zu sein scheint? In der auch viel über die Regierung geschimpft wird, aber Angst davor besteht, sich öffentlich zu äußern?
Eduardo, ein Sandinist der ersten Stunde, den der Autor dieser Zeilen schon seit über 30 Jahren kennt, sagt über seine Partei, die FSLN gibt es nicht mehr. Es gibt keine Nationale Leitung mehr, keine Sandinistische Versammlung, keine Kongresse, keine Diskussionen, keine Wahlen, kein Programm, keine Ethik. Aber es gibt einen straffen Apparat hinter den Kulissen, der von Rosario Murillo geführt wird.
So müssen beispielsweise alle Bürgermeister des Landes mindestens einmal pro Woche bei ihr antreten, um ihre aktuellen Anweisungen entgegen zu nehmen und diese dann am nächsten Tag an die eigenen Untergebenen weiter zu reichen. So gehen neben den anfallenden Kosten für Transport und Hotel Woche für Woche zwei wertvolle Arbeitstage verloren, die den Stadtverwaltungen zur Erledigung ihrer wirklichen Aufgaben fehlen. Natürlich gibt es im Gesetz über die Autonomie der Gemeinden keinerlei Hinweis auf eine solche Arbeitsweise. Diverse Fernsehstationen wurden an die Söhne der Präsidentenfamilie verteilt. Die Werbefirma, die die allgegenwärtigen riesigen Regierungsposter mit dem retuschierten – weniger Falten und mehr Haupthaar als im richtigen Leben – Konterfei Ortegas zu einem einträglichen Preis präsentiert, gehört ebenfalls einem von ihnen. An viele wichtige Schaltstellen staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen setzt Murillo Nachwuchskräfte der Sandinistischen Jugend, denen es zwar an politischer Erfahrung mangelt, dies machen sie jedoch durch einen
blinden Gehorsam gegenüber ihrer Gönnerin wett.

 Daniel Ortega: Schreiten wir voran! Im Glauben, Familie und Gemeinschaft! In Siegen! (Foto: M.S.)
Natürlich stellt sich die Frage nach der Opposition. Die lässt sich – nach dem Volksmund – grob in drei Gruppen unterteilen: Die erste Gruppe hat sich mit gut dotierten Posten (Oberster Gerichtshof, Oberster Wahlrat, Vorstand öffentlicher Unternehmen usw. usf. …), Lizenzen (Fischerei, Holzwirtschaft, …) oder sonst wie von Ortega kaufen lassen und führt ein gutesund zufriedenes Leben. Die zweite äußert sich zwar noch manchmal kritisch, dies tut sie aber hauptsächlich, um den eigenen Kaufpreis hochzuschrauben. Und dann gibt es noch die Gruppe der Aufrechten, die sich unabhängig von materiellen Anreizen oder persönlichen Risiken für ihre politischen Ideen einsetzen. Diese Gruppe ist aber bei Weitem die kleinste von den dreien.
Zu dieser letzten Gruppe gehören die Organisatoren von Protesten gegen den Kanal, Menschenrechts-Organisationen, unabhängige Frauengruppen, einige wenige unabhängige Presse.Organe, Umwelt-Initiativen, einige Parteien mit oder ohne Parteienstatus, Wissenschaftler u.a.m. … aber sie werden von der offiziellen Politik einfach totgeschwiegen. Die Regierung stellt sich grundsätzlich keinen Pressekonferenzen. Sie nimmt auch zu noch so fundierten Kritiken nicht öffentlich Stellung, sondern sitzt sie einfach aus. Und wenn es dem Präsidenten zu bunt wird, greift er manchmal auch zum Mittel der offenen Repression. Diejenigen, die Spanisch verstehen, können sich ein sehr gutes Bild von der hervorragenden Argumentations-Qualität einiger Gruppen der Opposition und der Armseligkeit der Regierung-Position verschaffen, wenn sie sich auf YouTube das Hearing vom 15. März 2015 über den geplanten Bau des interozeanischen Kanals vor der Interamerikanischen Menschenrechts-Kommission anschauen. Dabei steht übrigens die vor diesem Gremium zur Schau getragene Höflichkeit der Regierungs-Vertreter gegenüber ihren Kritikern in eklatantem Widerspruch zum Umgang mit Oppositionellen in Nicaragua selbst.

Deutschland gut vertreten

Der deutsche Botschafter in Nicaragua Karl-Otto König hat sich bereits gut in die Gepflogenheiten des Landes eingefügt. Als im Februar eine Delegation des Deutschen Bundestages Nicaragua besuchte, wollte diese natürlich auch Präsident Ortega begrüßen. Der hatte jedoch leider keine Zeit. Neben vielen anderen Treffen wurde auch ein kleines privates Abendessen geplant, um sich mit Vertretern der nicaraguanischen Zivilgesellschaft auszutauschen. In dieser Gruppe waren unter anderem auch Menschenrechtsorganisationen und unabhängige Presseorgane vertreten. Kaum hatte das Essen begonnen, kam jedoch ein Anruf, dass der vielbe-
schäftigte Präsident doch noch Zeit für die Parlamentsdelegation gefunden hätte. Er würde sie innerhalb der nächsten 30 Minuten erwarten. Selbstverständlich wusste der deutsche Chefdiplomat von Managua, dass man heutzutage bei Ortega springen muss, wenn man ihn nicht verärgern will. So ließen die deutschen Volksvertreter die Vertreter der nicaraguanischen Zivilgesellschaft kurzerhand alleine am Tisch sitzen, um ihren Diener vor dem Pueblo Presidente
(Volks-Präsident) zu machen. Von diesem Treffen kann man jetzt viele schöne Fotos auf der Homepage der Botschaft bewundern.
Da die nicaraguanische Seite bestens über das Besuchsprogramm informiert war, kann man den plötzlichen Anruf Ortegas nur als plumpen – aber offensichtlich erfolgreichen – Versuch interpretieren, das Gespräch der Bundestagsdelegation mit Vertretern der Zivilgesellschaft zu verhindern. Wie man hört, zeigt der Botschafter zumindest gegenüber seinem Hund ein anständiges Benehmen: Er hat seinen Dienst in der Botschaft vier Wochen zu spät angetreten, weil sein Rasse-Tier Zahnschmerzen hatte. Die mussten natürlich zuerst einmal mit dem seelischen Beistand seines Herrchens auskuriert werden.

Autoritärer Staat mit sozialem Touch

Die über 50.000 minderjährigen Jugendlichen aus Mittelamerika, die im vergangenen Jahr versucht haben, illegal über Mexiko in die USA einzureisen, kommen fast alle aus Guatemala, El Salvador oder Honduras, wo sie vor Armut und Gewalt fliehen. Nur wenige hundert von ihnen kommen aus Nicaragua. Die wirtschaftliche Situation Nicaraguas ist keineswegs besser als die in diesen drei Nachbarländern. Dennoch muss es etwas geben, worin Nicaragua sich grundsätzlich von diesen Gesellschaften unterscheidet. Ohne Zweifel ist das Ausmaß der alltäglichen Gewalt im Stadtteil und auf der Straße in Nicaragua deutlich geringer als in den drei anderen Ländern. Wer frei von gewalttätigen Jugendbanden und Drogenkriminalität aufwachsen will, muss nicht aus Nicaragua fliehen. Aber das Gesellschaftsmodell Nicaraguas bietet für die große Mehrheit der Jugendlichen offensichtlich mehr, als das nackte Überleben.
Von den Hunderten von Millionen Öl-Dollars, die aus Venezuela ins Land geflossen sind, ist offensichtlich ein gewisser Teil auch bei den Armen angekommen. Im Gegensatz zu den drei liberal-konservativen Vorgänger-Regierungen, reißt Ortega nicht die gesamten Reichtümer an sich, sondern lässt immer auch etwas für breitere Sektoren der Bevölkerung übrig, die dadurch zumindest kleine Verbesserungen in ihrem Leben verspüren. Und denen, die noch nichts abbekommen haben, bleibt zumindest die Hoffnung darauf, bei der nächsten Runde bedacht zu werden: mit ein paar Hühnern oder gar einem Schwein, mit einigen Zink-Platten für das löchrige Dach des Hauses, mit einer Taxi-Lizenz, vielleicht mit einem Arbeitsplatz in irgendeiner Behörde oder sogar mit einem Auslands-Stipendium für eines der Kinder. Zwar ist der Geldfluss aus Venezuela auf Grund des niedrigen Weltmarktpreises für Rohöl massiv ins Stocken geraten, aber die Folgen davon sind gegenwärtig noch nicht so deutlich spürbar.
In einer globalisierten Welt, in der nach wie vor die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, interessieren sich Letztere offenbar mehr für die kleinen Verbesserungen in ihrer alltäglichen Lebenssituation als für die Vorzüge von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der großen Politik. Auf dieser Erkenntnis basiert das gegenwärtig recht stabile System Ortega-Murillo. Es greift nur punktuell auf offen repressive Gewalt zurück, weil es ihm bisher gelungen ist, die Gesellschaft vor allem in zwei Richtungen zu integrieren: Es gewährt einerseits eine Vielzahl von Vergünstigungen und sozialen Programmen, die das Leben der Armen auf die eine oder andere Art bescheiden verbessern. Andererseits bietet dieses Regime dem Unternehmertum, das in weiten Teilen politisch eher der Opposition zuneigt, beste Rahmenbedingungen für seine Geschäfte – was der Regierung Ortega wiederum durch politisches Stillhalten gedankt wird. In den Berichten von Amnesty International über Honduras, El Salvador und Guatemala für das Jahr 2014 wird von mehreren Tausend Morden berichtet, deren Opfer Journalisten, Gewerkschafter, Vertreter von Landarbeitern und indigenen Gemeinschaften, Frauen, Menschenrechtsaktivisten und andere sind. Währenddessen wird Nicaragua außer für die Aufrechterhaltung des totalen Abtreibungsverbotes dafür kritisiert, dass die Polizei auch schon 2014 eine unabhängige Frauen-Demonstration blockiert habe und dass bei einer anderen Gelegenheit Demonstranten von Unterstützern der Regierung geschlagen wurden, ohne dass die Polizei zu deren Schutz eingeschritten wäre.
Präsident Ortega hält alle Hebel der staatlichen Gewalt Nicaraguas – die Regierung, die Justiz, das Wahlsystem und auch das Parlament – fest in seiner Hand; Parteien werden erlaubt und verboten, wie es ihm gerade gefällt; Abgeordnete werden abgesetzt, wenn sie nicht wunschgemäß abstimmen; öffentliche Angestellte werden zu Parteizwecken missbraucht; und auch viele weitere Vorkommnisse sind deutliche Signale dafür, dass in diesem Land weder Freiheit noch Demokratie herrschen. Auf der anderen Seite kommt offene staatliche Gewalt vergleichsweise selten zur Anwendung, und dort, wo sie dennoch ausgeübt wird, geschieht das weit unterhalb des Niveaus der Nachbarländer und wahrscheinlich auch der große Mehrheit aller Staaten dieser Welt. Es gibt keine politischen Gefangenen; es gibt keine systematischen Ermordungen von Gewerkschaftern oder Oppositionellen; es gibt unabhängige Presseorgane wie die Tageszeitung La Prensa, die Fernsehmagazine Esta Noche / Esta Semana oder das Online-Magazin Confidencial; verschiedenste Organisationen der Zivilgesellschaft können immer noch im Lande arbeiten; wenige hundert Meter vom Privathaus-Parteizentrale-Präsidentensitz Ortegas entfernt geht die Menschenrechtsorganisation CENIDH ihren Aktivitäten nach; diese Umstände sprechen dafür, dass Nicaragua gegenwärtig – noch zumindest – keine Diktatur ist, wenn dieser Begriff nicht völlig seiner Bedeutung beraubt werden soll.
Dieses Gebilde, das den Boden von Freiheit und Demokratie schon lange verlassen hat, das aber noch lange nicht dort steht, wo man normalerweise eine Diktatur erkennen würde, könnte man vielleicht am ehesten als einen autoritären Staat mit sozialem Touch bezeichnen. Es handelt sich um eine Gesellschaft, die mit harter Hand geführt wird, der Bereicherung eines sehr engen Kreises um die Familie Ortega-Murillo herum dient, sich mit dem Unternehmertum des Landes gut stellt und den verarmten Massen ab und zu etwas Almosen gibt. Dabei herrscht das allgemeine Prinzip des premio y castigo vor, wie es Onofre Guevara – eine Ikone
des freiheitlichen Sandinismus und des demokratischen Sozialismus in Nicaragua – kürzlich einmal genannt hat. Auf Deutsch lässt sich das wohl am besten als System von Zuckerbrot und Peitsche bezeichnen.
Die zukünftigen Entwicklungen werden in den nächsten Monaten und Jahren maßgeblich von zwei Themen geprägt werden: Erstens kann der ausbleibende Geldfluss aus Venezuela, verschärft durch die jetzt viel schwerer zu erfüllenden Rückzahlungsverpflichtungen, negative Folgen für die allgemeine wirtschaftliche und soziale Situation des Landes mit sich bringen.
Zweitens kann der Konflikt um den Bau des interozeanischen Kanals deutlich an Sprengkraft gewinnen. Wenn man den Campesinos ihr Land wegnehmen will, dann gehen sie auf die Barrikaden. Die Unterschätzung der Landfrage war schon 1990 eine der wichtigsten Ursachen für den Machtverlust der Sandinisten. Es ist nicht auszuschließen, dass Ortega dabei ist, diesen Fehler zu wiederholen.
01.04.2015

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